19. September 2024

Ekel, Entsetzen und Erschütterung

Die folgenden Eindrücke sind am 9. September entstanden. Multiplikator_innen besuchten im Rahmen des Projektes „Mit-Sprache für alle“ die Gedenkstätte für Opfer der NS-Euthanasie im Fachklinikum Bernburg, um Eindrücke und Anstöße für ihre Arbeit in der politischen Grundbildung mitzunehmen.

Eine unsichtbare Barriere steht zwischen dir und der Tür, die in die Gaskammer führt. Deine Gedanken kreisen darum, ob du stark genug bist, um diesen Raum zu betreten, ob du aushalten kannst, an einem Tatort, an einem Ort zu stehen, an dem Menschen ermordet wurden. Sekunden vergehen und fühlen sich an wie Stunden. Ein inneres Gefühl saugt dich an dem Platz fest, an dem du stehst. Die Gedanken in deinem Kopf kreisen, du fasst Mut, setzt einen Schritt vor den anderen, leichter Schwindel überkommt dich als dein linker Fuß die untere Stufe betritt, du versuchst einen klaren Gedanken zu fassen als dein rechter Fuß auf der Höhe des eingezogenen Bodens landet, dein linkes Knie fühlt sich steif und unbeweglich an, dein Gang ist unsicher und wackelig, du duckst dich unter dem zu niedrigen Türrahmen hindurch und betriffst den Raum. Stille! Deine Blicke schweifen ziellos umher, weiße Fließen, schwarze Fliesen, Rohrleitungen, drei vermeintliche Duschbrausen hängen von der Decke, Licht fällt ein, wieder Stille und Innehalten. Tiefe Betroffenheit und Entsetzen begleitet dich, während du durch den Sektionsraum und schließlich in den Raum gehst, in dem die Leichen verbrannt wurden. Die Verbrennungsöfen existieren nicht mehr. Auf der anderen Seite des Raumes sind Bilder in mehreren großen Rahmen angeordnet. Die Opfer! Viele Bilder zeigen die Menschen an glücklichen Tagen, mit einem freundlichen Gesicht, umgeben von Natur oder in Ausgehkleidung. Ein Raum des Erinnerns und Gedenkens. Der Versuch, den Toten ein Stück Würde zurückzugeben.  Gaskammer, Sektionsraum und Krematorium hintereinander auf nicht einmal 30 Meter inmitten eines Krankenhauses. Ein ungebändigter Ekel überkommt dich, als dir bewusst wird, mit welchen perfiden Überlegungen diese Räume gebaut und angeordnet wurden. Du glaubst, mit dem Weg aus dem Kellertrakt hinaus würde dieses Gefühl schwinden? Nein! Es verschwindet nicht, solange du nicht beginnst über deine Eindrücke zu sprechen und dir bewusst machst, dass es bei der Vernichtung in erster Linie nicht um jüdisches Leben, nicht um ethnisch Verfolgte, nicht um Kriegsgefangene und nicht um politische Häftlinge ging, sondern die Opfer dein Sohn, deine Tochter, dein Mann, deine Frau, dein Großvater oder deine Großmutter hätten sein können!

Woran dieser Ort erinnert:
Dass Menschen systematisch vernichtet wurden aufgrund von Behinderungen oder psychischer Erkrankungen.
Dass die Nationalsozialisten Menschen töteten, um ihre vermeintliche Volksgemeinschaft zu bereinigen.
Dass sich medizinisches Personal, das sich dem Wohl und der Pflege von Patienten verschrieb, zu Mittäterinnen und Mittätern machte.
Dass ein Vergessen dieser Gräuel nicht möglich ist.
Dass wir eine Verantwortung besitzen
und diese Verantwortung ist aktueller denn je!